Imre Kertész: "Tiefe persönliche Verletzung"
SPIEGEL onLINE - 12. Oktober 2002, 13:13
Kertész tief verletzt von Walsers Roman
Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész hat Walsers Roman "Tod eines Kritikers" als tiefe persönliche Verletzung empfunden.
Das sagte der Schriftsteller in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Zugleich zeigte sich Kertész besorgt darüber, dass in Deutschland antisemitische Strömungen wieder stärker wahrnehmbar seien.
Hamburg - Kertész sagte der Zeitung, die Spannungen im Nahen Osten hätten nach seiner Einschätzung in Deutschland sehr viele antisemitische Stimmen ausgelöst.
"In dieser Situation erlebe ich zum ersten Mal seit dem Krieg in Deutschland eine antisemitische Sprache. Eine Sprache, die nur zur Tarnung eine Kritik an der israelischen Politik ist. Es ist interessant, wie vielfältig diese Sprache der Israel-Kritik ist, ich kann den Antisemitismus darin ganz klar spüren."
Kertész ging in der "Sonntagszeitung" auch auf die umstrittenen Äußerungen des nordrhein-westfälischen FDP-Landesvorsitzenden Jürgen W. Möllemann ein: "Da war ganz klar zu spüren, dass es stark antisemitisch ist, und er hat so viel über Sharons Politik gesprochen, dass man den Eindruck gewinnen konnte, in Nordrheinwestfalen werde der israelische Ministerpräsident gewählt."
Weiter sagte der Literatur-Nobelpreisträger, Martin Walsers "Tod eines Kritikers" habe ihn persönlich verletzt. "Ich will über das Buch nicht reden, weil ich es nicht gelesen habe. (...) Aber ich habe eine tiefe persönliche Verletzung vernommen aus den langen Passagen, die Walser in der ARD vorgelesen hat."
Imre Kertész
1929 in Budapest geboren, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald befreit. Übersetzer von Freud, Nietzsche, Hofmannsthal, Canetti, Wittgenstein u.a. Die jahrzehntelange Arbeit am »Roman eines Schicksallosen« finanzierte er durch Unterhaltungsstücke fürs Theater. »Fiasko«, Roman, 1988; »Die englische Flagge«, Prosa, 1990. »Eine Geschichte. Zwei Geschichten« (mit Peter Esterházy; 1994). Bei Rowohlt Berlin erschien »Kaddisch für ein nicht geborenes Kind« (1989; dt. 1992) und »Galeerentagebuch« (1992; dt. 1993).